Neueröffnung der Galerien Richard Guhr/Hans Otto
im Regionalmuseum Fritzlar am 29.11.1987
- Einführung in das Werk von Richard Guhr –
Rede anläßlich des Festaktes: Dr. Ruth Stummann-Bowert
Der 29. November 1987 ist ein besonderer Tag. Vor einem Jahr ging Frau Hedwig Guhr - sie ist seit einem Jahr nicht mehr da - so würde man in Afrika über die Tote sprechen und heute, am ersten Jahrestag des Todes, ein Freudenfest feiern, weil nun die Hinweggegangene sich ganz verwandelt und ihren Wächterplatz in der Nähe des Ortes gefunden hat, der seelisch und geistig das Handlungszentrum der Lebenden war.
Warum knüpfe ich an dennoch heute lebendigen Ahnen- und Totenkult an: um an eine Frau zu erinnern, der die Stiftung Museum Fritzlar und die Fritzlarer Bürger diesen Ausstellungsraum und alle Bilder zu danken haben. Sie hatte bereits mit einer ersten Schenkung von Bildern und finanziellen Zuwendungen ihre Hüterfunktion erfüllen wollen und hat mit der Erblassung aller in ihrem Besitz befindlichen Bilder sowie Schriftstücken und finanziellen Mitteln das Lebenswerk Richard Guhrs sichtbar machen wollen. Seitdem nun im März dieses Jahres der Nachlaß zugänglich wurde, sind durch Restaurierung einer Vielzahl von Bildern, durch Neuordnung des Bildbestandes und eine in Kürze erscheinende Einführung in das Werk Anstrengungen unternommen worden, den Auftrag Hedwig Guhrs zu erfüllen.
Sie wurde als Hedwig Koch 1893 in Hagen geboren und wurde 93 Jahre und 6 Monate alt. Sie überlebte Richard Guhr um genau 30 J ahre und einige Wochen. Richard Guhr starb am 27. Oktober 1956.
Sie hatte schon ein Leben gelebt, als sie 1939 46jährig und gerade einige Monate verwitwet, dem damals 66jährigen Richard Guhr in Schloß Albrechtsberg bei Dresden begegnet, weil sie die fürstlichen Räume betrat, die der Oberbürgermeister der Stadt Dresden für die Bilder der Wagner - Ehrung zur Verfügung gestellt hatte. Hedwig Guhr war ausgebildete Konzertsängerin und hatte den Kapellmeister Rudolf Bing geheiratet, über dessen Wirken sie mit der Musik Richard Wagners vertraut war.
Ihr Großvater mütterlicherseits hatte mit seinen Söhnen eine Kunstwerkstatt für dekorative Malerei, Porträtieren und Goldarbeiten geführt. Als Kind saß sie oft bei dem einzig noch lebenden Onkel und sah ihm beim Malen und Restaurieren zu. So war ihr von Kunst geprägter Erfahrungshintergrund dazu angetan, in einem Augenblick als sie,früh verwitwet, nicht wußte, welche Richtung sie nun ihrem Leben geben sollte, die Begegnung mit Richard Guhr im Jahre 1939 zum Schlüsselerlebnis werden zu lassen. Sie schreibt in hinterlassenen autobiographischen Aufzeichnungen offen darüber, daß ihre Verwandten sie wieder verheiraten und mithin ihre bürgerliche Existenz sichern wollten. Aber sie geht einen anderen Weg.
Nach anderthalb Jahren kurzer, offenbar mehr aus Notizen bestehender Korrespondenz und gelegentlichem Erscheinen in Albrechtsberg zieht sie in einen abgetrennten Teil der großen Wohnung Richard Guhrs und wird fortan - seine Dienerin.
Den Begriff führt er selbst ein. Hedwig Guhr erinnert sich: Ich sagte: „Nächsten Sonntag komme ich wieder in die Wagner-Ehrung, dann erst kann ich Ihnen sagen, ob ich Ihnen helfen kann. Eine kurze Antwort vom Meister, nicht nur helfen - dienen, dienen, dienen, heißt es im Parsifal.“
Sie wird seine Haushälterin, seine Gesellschafterin, indem sie ihm vorsingt, seine Assistentin, wenn sie bei Führungen in Schloß Albrechtsberg Bilder erklärt; sie begleitet Guhr aus dem brennenden Dresden und drapiert im Forsthaus Höckendorf, wo beide für Guhrs letztes Lebensjahrzehnt eine Bleibe, finden, Stoffe auf Holzpuppen, als er nochmals zu malen beginnt. Dort, im Forsthaus, entstehen übrigens auch die Ansichten von Höckendorf und die Bildnisse, die Guhrs Präzision der Realitätserfassung und die Beherrschung aller maltechnischen Mittel erkennen lassen. Anfang Januar 1947 heiratet Richard Guhr Hedwig Bing.
Wer ist der Mensch, der Künstler, der - wie es uns scheinen mag - mit herrischer Geste eine Frau nur in der untergeordneten Rolle der Dienerin in seiner Nähe duldet. Richard Guhr, den die Dresdner Fremdenverkehrswerbung als Schöpfer der Turmfigur auf dem Rathaus, dem anerkannten Wahrzeichen Dresdens nennt, und der in Monographien über den Maler Otto Dix in einer Fußnote als einflußreicher Lehrer von Dix abgehandelt wird.
Er wird 1873 in Schwerin geboren, der Residenzstadt des Großherzogtums Mecklenburg - Schwerin. Der Vater ist Kammermusiker und gehört mithin als Künstler dem sozialen Stand des Bildungsbürgertums an, das mit dem Besitzbürgertum nicht identisch ist. Die Söhne Richard und Alfred steigen relativ in diesem Stand des Bildungs-bürgertums noch auf. Richards Künstlerkarriere ist erfolgreich, und er krönt sie mit.dem Professorentitel. Der jüngere Bruder wird Beamter, dann Maler und fällt im ersten Weltkrieg.
In der Residenzstadt Schwerin leistet Richard Guhr nach höherer Schulbildung den Militärdienst ab und ist Leutnant der Reserve. Auch dies gehört zum sozialen Stand. Folgt man einem der wenigen erhaltenen Berichte über den jungen Guhr, so war er durchaus schneidig in seinem ganzen Auftreten: Akademiker, Künstler, Offizier. Von Schwerin aus begibt er sich vermutlich zunächst nach Berlin - auch einer Residenzstadt. Er erlebt dort in den Formen des großstädtischen Lebens die Bevölkerungsexplosion, die in Deutschland zwischen 1890 und 1913 um 36% betrug. Berlin ist nicht mehr nur preußische Residenzstadt, sondern Hauptstadt des Kaiserreichs. Das Studium an den Kunstgewerbeschulen Dresden - der dritten von Guhr gewählten Residenzstadt ist nicht zufällig. Die Kunstgewerbe-schulen sind Hauptstützen bei der Umsetzung künstlerischer Ideen in dem weiten Bereich der angewandten Künste, von denen Landesfürsten und der Kaiser die prunkvoll repräsentative Umkleidung ihrer Herrschaft erwarten. Wandmalerei und angewandte Bildhauerei sollen die neuen kommunalen Großbauten - Rathäuser, Banken, Warenhäuser mit den Formen schmücken, die in Vorbildersammlungen die europäische und ägyptische Kunst verfügbar halten. Guhr verdingt sich zunächst als Dekorationsgeselle und steigt so in den Konkurrenzkampf um Aufträge angewandter Kunst ein.
So ist er, vermutlich noch als angestellter Dekorateur, bei der Ausmalung des Kaiserkellers in Berlin, einem Weinlokal mit Fresken aus dem Leben der Hohenzollern, beteiligt. Da er weiß, daß Geld nicht alles ist, mußte er sich einen Namen als Künstler erwerben. Dies geschieht auf den großen Berliner Kunstausstellungen nach 1900, die Kunst- und Kunstgewerbe zu großen Messeschauen vereinigen. Er hat Erfolg. 1904 beruft ihn das Innenministerium in den künstlerischen Beirat für die Weltausstellung in St. Louis. Jetzt trifft er namhafte Architekten und Künstler. Er erhält für seine Verdienste um die Ausgestaltung der deutschen kunstgewerblichen Abteilungen in St. Louis eine goldene Medaille. Jetzt fehlen zur Sicherung seiner beruflichen und gesellschaftlichen Position nur noch zwei Dinge, die Professur an einer einflußreichen akademischen Institution und - die Ehe. Das erste gelingt. Er erhält eine Professur an der Dresdner Kunstgewerbeschule für das Fach Figurenzeichnen und bei der Ausschreibung für den Bau eines neuen Dresdner Rathauses den Zuschlag für 11 Gesimsfiguren der Vorderfront und für eine Turmfigur. Das war 1906. Dresden war nicht irgendeine Stadt. Als Königsstadt Sachsens lag sie in Konkurrenz mit der Stadt des preußischen Erbfeinds.
Der Kampf um den Führungsanspruch spiegelte sich auch darin, daß die dritte deutsche Kunstgewerbeausstellung 1906 in Dresden stattfand und auch hierbei Guhr erfolgreich teilnahm. Zur Vervollständigung des sozialen Standes des Bildungsbürgers fehlte eins - die Ehe. Ohne Ehe kein Stammtisch, und dieser war entscheidend für das gesellschaftliche Prestige.
Hedwig Guhr berichtet von einer Verlobung, die durch Untreue der Braut aufgelöst worden sei und der Schlußfolgerung, die Guhr durch Abwendung von den Frauen daraufhin gezogen habe. Das mag so sein, es kann auch anders gewesen sein. Aus den Selbstzeugnissen, die bei der Haushaltsauflösung im Frühjahr - bei der Stadt und Stiftung ausgeschlossen wurden - erhalten blieben, einem einfachen schwarzen Heft mit Eintragungen von der Hand Richard Guhrs, geht hervor, daß dieser um 1906, also auf der Höhe seines künstlerischen und gesellschaftlichen Erfolges, erkannte, daß er nicht heiraten würde. Die Frau erschien ihm als das ganz andere Prinzip mit dem Doppelgesicht einer Heiligen und einer Zerstörerin. Von tiefen Depressionen und Erkrankungen auf psychosomatischer Basis geplagt, beschließt er, „sein Kreuz auf sich zu nehmen“. Er stürzt sich in das Studium philosophischer und sogenannter schwerer Literatur - deutsche Klassiker, Bibel, Nietzsche, Schopenhauer, die Schriften Wagners und dies besonders während einer 40tägigen Fastenzeit um Ostern, die er von nun an, zunächst unter ärztlicher Aufsicht, bis zu seinem Tode einhält.
Diese Lektüre, die dem jungen Professor und Leutnant zunächst erhebliche Schwierigkeiten bereitet, wird die spätere Grundlage für die Bilder, die in den Jahren 1912 bis 1922 entstehen. Um diesen Kern von Bildern, die er erst sehr viel später, nämlich zum Zeitpunkt der Unterbringung in Schloß Albrechtsberg, zur Wagner-Ehrung zusammenfaßt, reichert er in den Jahren 1922 bis 1934 weitere an.
Zwei Fragen gilt es zur Verständnis der Künstler - Persönlichkeit Guhrs zu beantworten. Dies ist auch wichtig zum Verständnis des Stellenwerts, den diese Bilder rückblickend für ein ganzes Zeitalter haben.
Warum die Beschäftigung mit Schopenhauer, Nietzsche, Wagner der Bibel Schopenhauers philosophisches Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ beruht, vereinfacht, auf der These, daß nur durch die Überwindung des Willens, der als Lebens- und Fortpflanzungstrieb verstanden wird, der Mensch sich aus dem ungeheuren Leidensdruck am Leben befreien, gleichsam aus dem Kreislauf des kreatürlichen Existierens ausbrechen und zur höheren geistigen Erkenntnis, eben der Welt als Summe der Ideen - der Vorstellung - aufbrechen könne. Der Mensch, dem das gelingt, erreicht eine höhere Form von Sein. Es ist wesentlich, daß in der sozialgeschichtlichen Literatur über das Bildungs-bürgertum im Kaiserreich die besondere Ausprägung des deutschen Bildungsbegriffs seit dem mittelalterlichen Mystiker Eckart über Gotthold Ephraim Lessing bis hin zu Hegel hervorgehoben wird, Bildung wird belastet mit der „Bürde immanent-eschatologischer Heilserwartung“, das heißt, der Gebildete hat Teil an einer endzeitlichen Heils- und Erlösungswirklichkeit. Hegel sieht in Natur und Geschichte die Entfaltung des absoluten Geistes wirken, so daß systematische Bildung auch die systematische Annäherung des Menschen an eine ihn durchdringende Vergöttlichung wird.
Das bedeutete für Richard Guhr, daß er für sein asketisches zölibatäres Leben, das im Fasten seine höchste Steigerung erfuhr, in Schopenhauers Bekämpfung des Willens als einen geschlechtlichen und zum Tode führenden Triebes einen Kronzeugen hatte. Den anderen fand er in der nur scheinbar gegensätzlichen Lehre Friedrich Nietzsches. Gemeinsam mit Schopenhauer hat dieser die Annahme eines zyklischen Kreislaufes, einer ewigen Wiederkehr und der Verflechtung des Menschen in die Welt als einen Leidensprozeß. Im Gegensatz zu Schopenhauer entwickelt er daraus seine Formel von Amor fati - Liebe zum Schicksal - das heißt, der heldenhaften Bejahung der schmerzhaften Erfahrung von Leben - ohne moralische Bewertung. Es ist die Teilhabe am Lebensprozeß, jenseits von Gut und Böse. Diese oft mißverstandene Formel, die Essenz seiner Schrift „Also sprach Zarathustra“, ist die Proklamation eines Menschen, der aus dem Willen und dem Geist Schmerz und Lust des Lebens nicht nur erduldet, sondern sich in einem befreienden Lachen zum Schmerz als dem Zentrum des Lebens und als der Triebkraft aller geistigen Werke bekennt.
Untrennbar von dieser Lebensphilosophie entwickelt Nietzsche seine Kunstphilosophie: der Künstler erfährt das Leben als Rausch (erlebnismäßig) und als Traum (bilderschaffend).
Die Anleihen für die beiden Prinzipien Lebenserfahrung und Lebensgestaltung entnimmt er dem griechischen Mythos von Dionysos und Apoll und der griechischen Kunstform der Tragödie. So wird Nietzsche bei Guhr Symbolfigur für die triumphierende Erfahrung des lebenslangen Schmerzes und für seine Gestaltung zum Kunstwerk.
Eine dritte Kunstfigur wird Wagner. Als historische Person geht er als Gestalter einer deutschen Oper, mit der die Vorherrschaft der italienischen und französischen gebrochen wird, in das Wilhelminische Zeitalter ein.
Die Aufbereitung der Edda, des Nibelungenliedes, des Parsifalstoffes und die Thematik Weltuntergang in der Götterdämmerung kommt der Krisenstimmung des ausgehenden 19. Jahrhunderts entgegen. Nietzsche, zunächst Bewunderer Wagners, ironisiert dann dessen Musik und die Inhalte, zum Beispiel 1888 in dem Text „Der Fall Wagner“. Die Argumente machen deutlich, warum Wagner für Guhr zentrale Symbolfigur wurde:
„Wagner hat über nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht: seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgendwer will bei ihm immer erlöst sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein - dies ist sein Problem. Und wie reich er sein Leitmotiv variiert: Wer lehrte es uns, wenn nicht Wagner, daß die Unschuld mit Vorliebe interessante Sünder erlöst (der Fall im Tannhäuser). Oder daß selbst der ewige Jude erlöst wird, seßhaft wird, wenn er sich verheiratet? (der Fall im Fliegenden Holländer). Oder daß alte verdorbene Frauenzimmer es vorziehen, von keuschen Jünglingen erlöst zu werden? (der Fall Isoldens). Oder daß der alte „Gott“, nachdem er sich moralisch in jedem Betracht kompromittiert hat, endlich durch einen Freigeist und Immoralisten erlöst wird? (der Fall im Ring)“. Soweit boshaft Nietzsche. Er liefert, trotz seiner Entheroisierung Wagners das wichtigste, wenn auch allgemeinste Wort zum Verständnis des Werks von Guhr: ERLÖSUNG
Er litt, trotz äußeren Erfolgen, am Leben in den Jahren seit 1906, vor Kriegsbeginn hat er in Berlin noch ein Bildhaueratelier und erhält Großauftrag um Großauftrag-. Modelle für Bronzefiguren in Kaiser Willhelms Renommierhotel dem Berliner Adlon, für den Kaufhausbau Wertheim in der Nähe des Alexanderplatzes, Fassadenreliefs, bronzene Leuchter, figurale Ausschmückungen im Lichthof, Brückenfiguren in Berlin, Figuren für das Rathaus in Barmen usw.
Seine von ihm ausdrücklich genannte Beteiligung an der Kasseler Stadthalle ist leider wegen der zerstörten Akten nicht mehr rekonstruierbar; höchstwahrscheinlich geht aber die Lyra an der Fassade auf ihn zurück.
Er gehört zu denen, die an der Außendarstellung des wilhelminischen Deutschland mitwirken, gebildet an der römischen Antike, prachtvoll und in geschmackvoller Symbiose von Kunst und Kommerz. Aber er hat – unsichtbar, da Stigma.
Anders als bei anderen, die im harten Konkurrenzkampf nicht schritthalten und deshalb in Krisenstimmung geraten, sitzt bei ihm die Krise tief innen. Allerdings spürt er auch, daß die Zeiten sich ändern und vor allem der in Dresden durch Absprachen zwischen Kunstakademie und Kunstgewerbeakademie geregelte Auftragsmarkt und vor allem die Kunstszene in Unordnung gerät.
Es sind die jungen, gegen Kunst und Gesellschaft aufbegehrenden Studenten die Unruhe nach Dresden bringen. 1910 wird Otto Dix als Student der Kunstgewerbeakademie Guhrs Schüler im figuralen Zeichnen und im Modellieren.
Über Nietzsche scheint es zunächst sogar etwas wie Konsens gegeben zu haben. Um 1912 entsteht von Dix im Atelier Guhr eine Nietzsche-Büste, die seit 1933 verschollen ist. Da Guhr sich ausgeschwiegen hat, läßt sich kaum sagen, welcher Art der Einfluß auf junge Studenten war. Guhr stand mit der Überbetonung der zeichnerischen Linie und der Präzision in Dresden nicht alles an. Da Guhr in seinen Lehrveranstaltungen keinen Widerspruch duldete, ist davon auszugehen, daß die emotionslose Präzision der Linie bei Dix auf Guhrs Dozieren über die Bedeutung des Zeichnens und die Bedeutung der alten Meister zurückgeht. Dix spricht später von der Kamellast und dem Drill an der Kunstgewerbeakademie.
Dix beginnt, die ihm vermittelte Technik so einzusetzen, daß er den ihm ermittelten erhabenen Bildungskanon durch die Wahl anderer Motive demontiert.
Sicherlich mag das die persönliche Kriesenstimmung Guhrs mitbestimmt haben; sie war aber auch die eines ganzen Standes. Es gibt Hinweise dafür, daß eine größere Anzahl seiner Bilder seit 1912 oder 1913 entstand und bereits 1922 teilweise zu Schreinen von 3- 6 Bildern geordnet war. Die Bildtitel „Erlöser der Welt“ und „der große Weltenbrand“ bezeichnen die Pole, die symptomatisch für die individuelle Seelenlage Richard Guhrs sind, seine Malerei aber gleichzeitig in eine, vor allem von der protestantischen Bildungsschicht aus Theologen, Historikern, Schriftstellern vorgetragenen Weltgerichts - Prophetie einordnen. Die sozialgeschichtliche Forschung weist auf die weite Verbreitung einer apokalyptischen Prophetie um 1914 hin, als deren Vollstrecker sich Kreise der gebildeten Schicht fühlen.
„Im Zentrum der deutschen Apokalypse“, von 1914 so Klaus Vondung in „Das wilhelminische Bildungsbürgertum“ steht die Deutung des Krieges als Weltgericht, das Gott über Deutschlands Feinde verhängt hat. Die Kriegsgegner des Deutschen Reiches werden mittels apokalyptischer Symbole als Vertreter des schlechthin Bösen bezeichnet und mit dem Satan und Antichrist identifiziert.
Die Deutschen, von diesem Feind seit langem bedrängt, erscheinen als „Gottes Volk“, das berufen ist, im Auftrag Gottes das Weltgericht zu vollstrecken. Da Deutschland als Werkzeug Gottes kämpft, gilt sein Sieg als ausgemacht. Als Schlußakt eines apokalyptischen Dramas erhält der erwartete Sieg die Qualität eines „metastatischen“ Ereignisses, das heißt, eines Ereignisses, das gänzliche neue Strukturen hervorbringt und deshalb, nicht nur Deutschland, sondern der ganzen Welt Erlösung bringen wird. In diesem Sinne bezeichnet bei Guhr die Gerichtssymbolik in der Daniel- und Johannesapokalypse nicht das „unmittelbare Eingreifen Gottes in die Geschichte“, sondern die Vollstreckung des Weltgerichts innerhalb des Geschichtsprozesses von den Deutschen selbst, idealtypisch konzentriert auf die Figur Richard Wagners, der die - so bezeichnet von Richard Guhr - die „arische Regeneration“ einleitet. Diese Vorstellung ist ohne den eingangs erwähnten Bildungsbegriff einer ganzen Schicht, des Bildungsbürgertums, nicht denkbar.
Bei der Vergöttlichung des Menschen durch Bildung können einzelne hervorragende Persönlichkeiten Werkzeuge der Vorsehung, Vollstrecker des Weltgerichts werden. Ich muß auf die Nähe zum Führerkult im Dritten Reich nicht eingehen. Sie ist strukturell bedingt. Die Inhalte wurden dadurch austauschbar.
Wagner als Sensenmann, als Hüter einer Kindgeburt, als Posauner des Jüngsten Gerichts ist Prophet des Weltenbrands wie seines welterneuernden Umschlags. Dazu betrachten Sie bitte den heutigen Mittelteil des früher vierteiligen Zyklus „der große Weltenbrand“, genannt „Geistige Geburt“, Die hinter dem Haupt Wagners aufsteigende durchscheinende Kugel wird von Guhr als Orplid bezeichnet. Die Bezugnahme auf Mörikes berühmtes Gedicht „Der Gesag Weylas“ erscheint hier als mißbräuchliche Aktualisierung des Mythos von der welterneuernden Kindgeburt: „Du bist Orplid mein Land ! / Das Ferne leuchtet; / Vom Meere dampfet dein besonnter Strand / Den Nebel, so der Götter Wange feuchte / Uralte Wasser steigen / Verjüngt um Deine Hüften, Kind! / Vor deiner Gottheit neigen / Sich Könige, die deine Wärter sind.“
Die Zerstörung der alten Welt erhielt als euphorische Erwartung die Funktion befreienden Geschehens. Bei Guhr war die euphorische Erwartung ein halluzinatorischer Zustand während des Fastens, wobei oder unmittelbar danach er malte. Aus vielen Zeugnissen vor 1914 und danach ist bekannt, daß eine ganze Generation nach dem befreienden Untergang fieberte.
Guhr drückte das Leidensgefühl und das subjektive Gefühl des Befreitwerdens in der Reihe der Dulder und Büßer aus - Prometheus, Andromeda, Nietzsche, Wotan, Christus - ihre Erlösung durch die Kindgestalt und durch Wagner.
Das Bindeglied zwischen Erlösung = Erneuerung und Zerstörung als angeblicher Voraussetzung kultureller Erneuerung bildet die Muttergestalt, die schrecklich-Schöne. Sie hat bei Guhr im Rückgriff auf die griechische, ägyptische und abendländische Kunst die Züge der Sphinx, der Artemis, Medusa, der Elfenwesen und Mariengestalten.
Diese Mütter sind in den alten Religionen und Mythen stets den Erdkräften, dem Mond, der Nacht - in der Lehre Schopenhauers, Nietzsches und Wagners - den nicht gestaltenden, der Geschlechtlichkeit und dem Tod verfallenen Elementarkräften zugeordnet. Das weibliche Prinzip ist zwar Voraussetzung für Gestalten, Form, Bild und Kultur, aber nur dienend. Es würde zu weit gehen, den Umformungen nachzugehen, die die Jungfrauen- und Muttergestalt seit dem matriarchalisch organisierten Kulturen und naturreligiösen Mutterkulten bis hin zur abendländisch organisierten Gesellschaft erfuhr. Längst bekannt ist, daß die Literatur und Kunst nicht nur im wilhelminischen Deutschland, sondern in Europa gerade die Thematik „Weib“ auf die Dialektik „Verführerin – Erlöserin“ zuspitze. Auch hier ist, bis in einzelne bildliche Umsetzungen hinein, Guhr Zeitgenosse.
Seine Bildsymbole subjektiver Erlösungssehnsucht sind scheinbar durch die alten Kulturen, einschließlich Ägyptens, durch die Bibel und die Offenbarung Johannes sowie durch Kronzeugen abendländischer Malerei und Dichtung so legitimiert, daß sie zeitlose gültige Wahrheiten darzustellen scheinen.
Tatsächlich ist dieser Anspruch nicht zu halten. Wenn Sie, verehrte Zuhörer, später die Bilder Richard Guhrs betrachten, so mögen sie das Bild Nr. 10 nicht außer acht lassen. Es wurde in der zerstörten Erstfassung „Magna Io Cornuta“ (die große gehörnte Mutter) genannt. Zugrunde liegt der griechische Mythos von Io, der Geliebte des Zeus, die, um sie vor der Eifersucht der Hera zu retten, in eine weiße Kuh verwandelt wird. In dieser Erzählung wird die Verbreitung des Artemis - Mondkultes und seiner Verschmelzung mit den altägyptischen Stierkulten zum Isis - und Osiriskult dichterisch gestaltet, denn Io flieht als weiße Kuh bis nach Ägypten und wird erst dort von Zeus erlöst. Zugleich gebiert sie einen Sohn. Typisch für Guhrs Malerei ist, daß er die naturreligiösen Artemis - Isis - Kulte mit der ihnen zugeordneten Mondsichel so darstellt, daß sich bildmäßige Verbindungen zur Offenbarung Johannes und zur Mondsichel - Madonna ergeben. In der Zweitfassung ist dieses Bild genannt „Zeichen des Kosmos zeugen die Geburt des Wassermann-Zeitalters“. Nach der Vorstellung aus Amerika importierter Heilsund Erneuerungslehren, die ein neues Zeitalter, „New Age“ verkünden, sind wir ins Zeitalter des sanften Wassermanns eingetreten, der das Zeitalter der gewalttätigen Fische abgelöst hat. Diese subkulturellen Heilslehren, deren eines Publikationsorgan die übrigens von Frau Guhr gelesene Zeitschrift „Esotera“ ist, knüpft an mythischen und völkischen Erneuerungslehren an, die zum Teil bestimmten Gedankengängen im Dritten Reich nahestanden. Dazu gehört die Vorstellung von Krankheit als selbstverschuldeter Ursache und der dadurch gegebenen Ansteckung der Gemeinschaft. Was also als neu angeboten wird, gehört in die Krisenstimmung vor und nach dem ersten Weltkrieg. Die Bewegung »New Age«, deren vielleicht bekannteste Veröffentlichung „Die sanfte Verschwörung. Persönliche und gesellschaftliche Transformation im Zeitalter des Wassermann“ genannt wird, greift auf Vorstellungen zurück, denen zufolge die Frau der kosmischen Ganzheit näher und deswegen prädestiniert sei, die Umwandlung der Menschen zu einer neuen Menschheits-Gemeinschaft einzuleiten. Durch das Wiederaufleben dieser und ähnlicher Heilslehren könnten die Bildgestaltungen Richard Guhrs - trotz des Historismus der Darstellung - über den hier nicht gesprochen werden konnte - eine gewisse Renaissance erleben.
Das Theater sei keine „moralische Anstalt“. Dieser Ausspruch Lessings läßt sich abwandeln: die Kunst ist keine moralische Anstalt, und so hat man ebenso zu erkennen, daß Richard Guhr irrte, als er den Anspruch erhob, mit seinen Bildern eine von Wagner als idealdeutschem Repräsentanten ausgehende Welterneuerung einzuleiten; doch wäre es nur die Kehrseite jener Moral, die Bilder der Wagner - Ehrung als gefährlich - verführende Weltanschauung wegzuschließen. In ihnen und durch sie wird ein Zeitalter besichtigt, ein Teil deutscher Sozialgeschichte mit politischen Folgen. Wo Kunst ist, bleibt aber auch immer ein intellektuell nicht auflösbarer Rest. Der Betrachter, der nicht über mythologische und historische Kenntnisse verfügt, wird sich der düsteren Bedrängnis, dem Leidensdruck, der von den Bildern ausgeht, nicht entziehen können.
Das realistische Spätwerk aus Höckendorf bei Dresden nach 1945
© Urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.
Impressum: Verantwortliche Stelle im Sinne der Datenschutzgesetze, insbesondere der EU- Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), ist: Dr. phil. Johann-Henrich Schotten, 34560 Fritzlar-Geismar,
E-Mail: holzheim@aol.com und fritzlar-fuehrungen@gmx.de
Titeldesign: nach Kathrin Beckmann
Dank an Karl Burchart, Horst Euler, Marlies Heer, Klaus Leise. Wolfgang Schütz und Dr. Christian Wirkner für Hinweise und Tipps, Johannes de Lange für die Scan-Vorlagen
Die Seite ist nichtkommerziell und wird vom Verantwortlichen ausschließlich privat finanziert!
Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen
Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.