In New York kommt es vor, daß zwischen modernen, schwindelnd hohen Geschäftshäusern eine Kirche, die einst über ihre Umgebung hervorragte, wie eine Hütte verschwindet; wieder um sieht man zuweilen Kirchen, die zur Zeit, wo sie erbaut waren, in einem weiten und bedeutenden Umkreise Macht ausübten, groß und verlassen zwischen unscheinbaren Häusern liegen, abseits von den begangenen Straßen und vom Treiben des Tages; so ist es in Fritzlar. Einst war die Stiftskirche St. Peter der Mittelpunkt weltbewegender Interessen, hier versammelten sich die Könige und die Großen des Reichs, namentlich die stolzen Kirchenfürsten, und trafen wichtige Entscheidungen. Heilig und gefreit war das Münster und seine Umgebung, sein Schirm erstreckte sich weithin, wer ihm zu nahe trat, setzte sich dem allgemeinen Abscheu und vernichtenden Strafe aus. Im Jahre 1232 begab es sich, daß Konrad, der Landgraf von Thüringen, der heiligen Elisabeth Schwager, mit dem Erzbischof von Mainz, von dem er sich gekränkt glaubte, in Fehde lag und die Stadt Fritzlar, die dem Erzbischof gehör belagerte. Drei Monate hatte er vergeblich davorgelegen und er wollte schon abziehen, als der Spott der Belagerten ihn so reizte, daß er zu einem neuen Sturm schritt und diesmal Erfolg hatte. Viele Bürger hatten sich und ihre Habe in die Stiftskirche flüchtet; aber das Asyl wurde nicht geachtet. Bischof Heinrich von Worms suchte sich durch ein Fenster der erzbischöflichen Burg zu retten, wurde aber ebenso wie der Propst von Sankt Peter gefangen. Ein großer Teil der Stadt mit dem Dom und der Johanniskirche brannte nieder. Wegen der Verwüstung der Gotteshäuser wurde Konrad vom Papst in den Bann getan, dessen Kraft damals so groß war, daß der Betroffene alles daransetzte und keine Demütigung scheute, um sich davon befreien. Gewiß zerknirschte ihn aber auch das Gefühl, Heiligen gefrevelt zu haben. Er pilgerte nach Rom und speiste dort täglich vierhundertzwanzig Arme, wobei er selbst diente. Obwohl der Papst ihn nun vom Banne lossprach, genügte das nicht: er mußte auch dem Erzbischof von Mainz eine Sühne schaffen, die darin bestand, daß er die Kirchen reich beschenkte, öffentlich Buße tat und in einen geistlichen Orden eintrat. Mit zwei Freunden, Hartmann von Heldrungen und Theodorich von Grüningen, die bei der Zerstörung Fritzlars mitgewirkt hatten, trat er in den Deutschen Orden ein. Er war schon mehrere Jahre Ordensritter, als die öffentliche Buße stattfand. Während einer Prozession kniete er nieder und bat die Vorübergehenden, sie möchten ihn geißeln. Niemand, außer einem alten Mütterchen, soll der Aufforderung nachgekommen sein. Bald darauf wurde er Ordenshochmeister, zog in den Kampf gegen die heidnischen Preußen und erwarb sich Ruhm. In der Elisabethkirche zu Marburg. deren Bau er hauptsächlich veranlaßt hat, wurde er bestattet. Stift und Stadt Fritzlar bauten gemeinsam den Dom wieder auf, der jetzt noch steht, ein ehrfürchtig bestauntes Heiligtum, Vertreter einer Macht, vor der zur Zeit seiner Entstehung das ganze Volk in allen seinen Gliedern sich beugte.
Die Gegend um Fritzlar war von jeher den Göttern geweiht. Auf den Hügeln über der Eder verehrten die Chatten Wodan und Donar, in der Nähe, bei Geismar, fällte Bonifatius die Donar-Eiche. An den Zerstörern des heiligen Baumes vermochten die Diener untergehender Götter keine Rache zu nehmen, vielmehr errichtete Bonifatius zur Erinnerung an seine Tat in Fritzlar, das damals schon eine bewohnte Stätte war, ein kleines Benediktinerkloster und eine Kirche aus Holz. Von der steinernen, die später die erste ersetzte, einer dreischiffigen Basilika, wurden in unserem Jahrhundert die Grundmauern unter dem Mittelschiff der heutigen aufgefunden. Um das Jahr 1000 wurde das Kloster in ein Chorherrenstift verwandelt. Als königliche Pfalz und wegen des Stifts war Fritzlar Jahrhunderte hindurch ein Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Wigbert, ein Angelsachse, den Bonifatius kommen ließ, wurde der Lehrer des Bayern Sturmi, der später Hersfeld und Fulda gründete. An der Stiftsschule wirkte um 1200 Herbort, der im Auftrage des Landgrafen Hermann von Thüringen das Lied von Troja dichtete. In der Pfalz starb König Konrad aus dem Geschlecht der konradinischen Grafen von Hessen. Im Sterben bat er seinen Bruder Eberhard, zugunsten des tüchtigen und angesehenen Heinrich von Sachsen auf die Krone zu verzichten, worauf der Vogeler gewählt wurde. Oft war Otto I. Fritzlar, zum letzten Male mit seinem Sohne Wilhelm, der seit einigen Jahren Erzbischof von Mainz war. Ihm übergab der Kaiser, da die hessischen Grafen ausgestorben waren, die Grafschaft, wodurch Fritzlar auch in weltlicher Beziehung an das Erzstift kam, zu dessen Diözese es bereits gehörte. Als Heinrich IV. sechzehnjährig in Fritzlar war. erkrankte er so schwer daß schon über die Nachfolge beraten wurde; die Ursache der Krankheit sah man darin, daß er kurz zuvor in Aachen dem Erzbischof Anno von Köln das Kloster Malmedy geschenkt hatte, das dem Kloster Stablo zustand. Nachdem er die Schenkung rückgängig gemacht hatte, so heißt es, wurde er gesund. Noch mehrmals war der unglückliche Kaiser in Fritzlar, im Jahre 1005 mit seinem Sohne, der heimlich nachts die Stadt verließ, um sich nach Bayern in das Lager der Feinde seines Vaters zu begeben. Dreizehn Jahre später wurde auf einer Synode in Fritzlar der Bann über Heinrich V. und den von ihm aufgestellten Papst verhängt. Auf derselben Synode wurde der später heiliggesprochene Norbert vom päpstlichen Legaten verklagt, weil er auf eigene Hand als Bußprediger aufgetreten war. Er hatte als Kanzler Heinrichs V., obwohl ein Geistlicher, mit anderen jungen Leuten ein weltliches Leben geführt, bis ein Blitzstrahl. der vor ihm in die Erde fuhr, ihn an die Gebrechlichkeit des irdischen Daseins mahnte. Er verkaufte, was er hatte, und schenkte alles den Armen, Seine Berufung auf Johannes den Täufer überzeugte die Versammelten, und er wurde freigesprochen.
Über hundert Jahre später wurde auf einer Synode in Fritzlar der Bann über Friedrich II. verhängt; aber die höchste Blüte von Stadt und Stift war schon vorüber, obwohl die großartige Erneuerung der zerstörten Stiftskirche gerade unter den letzten IIohenstaufen begonnen wurde. Nicht mehr wie früher versammelten sich in Fritzlar Kaiser und Reich, wodurch ihm der Glanz einer Reichsstadt zuteil geworden war. Künftig war für seine Geschichte bestimmend der Umstand, daß es, auf der Grenze zwischen Mainz und Hessen liegend, ein Gegenstand beständigen Streites zwischen diesen Fürstentümern war. Dabei hielt gewöhnlich das Stift zu Mainz, die Stadt zu Hessen. Als Fritzlar zur Reformationszeit gerade hessisch war, nahm es unter dem Schutze des Landgrafen einmütig, mit Ausnahme des Stifts, die neue Lehre an. Das Kloster der Augustinerinnen, im Tal außerhalb der Mauern gelegen, leerte sich, ebenso das Franziskanerkloster. Jost Runcke, ein Handwerker von Beruf, wurde Fritzlars erster Prediger, anfänglich an der Fraumünsterkirche im Osten vor der Stadt, dann an der Kapelle vom Heiligen-Geist-IIospital. Indessen konnte sich der Protestantismus nicht erhalten; der Glaube wechselte, je nachdem Mainz oder Hessen obsiegte, bis Fritzlar durch den Westfälischen Frieden endgültig zu Mainz kam. Trotz des Versprechens der Duldung wurde die Stadt unter dem erzbischöflichen Regiment gewaltsam katholisiert.
Sehr mächtig und angesehen kann die Stadt als solche niemals gewesen sein; sie war weder durch ihre Lage zum Handelsplatz bestimmt, noch beförderte sie durch irgendwelche Produkte das besondere Aufkommen gewisser Gewerbe. Sicherlich waren die Bewohner Fritzlars zum großen Teil Ackerbürger, wie der Ort jetzt noch einen dörflichen Charakter hat. Immerhin zeugt das romanische Rathaus von früh entwickeltem städtischem Walten. Nur der steinerne Unterbau ist vorhanden; das obere Geschoß wurde in der Mitte des 15. Jahrhunderts durch einen spätgotischen Fachwerkbau ersetzt, der reich, zierlich und malerisch war, der aber im 19. Jahrhundert abgerissen wurde. Aus der gotischen Zeit stammt ein von dem Schöffen und Bürgermeister Johann Katzmann gestiftetes Reliefbild des heiligen Martin, das jetzt den einzigen Schmuck des düsteren, entstellten Gebäudes bildet. Die Katzmanns gehörten zu den vornehmen Geschlechtern von Fritzlar. An der Spitze der Stadtverwaltung standen zwei Bürgermeister; die zwölf Mitglieder des Rats wurden Schöffen oder Konsuln genannt. Den Schultheißen, der Vorsitzender des Schöffengerichts war, setzte der Erzbischof ein und ab. Die Gemeinde war durch zwei Männer vertreten, die den merkwürdigen Namen "Worte" oder "gemeine Worte" hatten. Diese Einrichtung bestand bis 1788. An den Markt grenzen ein paar schöne schlanke Fachwerkhäuser, und ein ansehnlicher Renaissancebrunnen schmückt ihn. Von dort führt eine schmale Gasse am heftig gezackten Steingiebel einer alten Kurie vorüber zum Dom. Stolz und ruhig liegt er auf dem Hügel über dem Tale wie ein alter Herrscher, der nicht merkt, wie sein Reich geschwunden und sein Volk gering geworden ist, ein Barbarossa in Traum versunken. Die Raben fliegen um seine Türme, die Kinder spielen auf dem weiten Platz vor ihm, und zuweilen kommt ein Fremder und blickt bewegt an seiner grauen Masse hinauf; er liegt feierlich da, als erwarte er Kaiser und Bischöfe und Grafen, vor sein Altären zu knien. Was an diesem Bau vor allem entzückt, die Mannigfaltigkeit seiner Gestaltung, von Jahrhunderten zusammengetragen. Der Westfassade ist das romanische Paradies vorgebaut, die Säulengalerie der Apsis ist durch ein hohes gotisches Fenster durchbrochen, über einer Nebenapsis erhebt sich ein reizendes Fachwerkgeschoß, die Bibliothek; dem nördlich Seitenschiffe vorgelagert sind eine gotische Kapelle und ein barocker Windfang, der rote Hals. An das südliche Seitenschiff schließt sich der Kreuzgang mit reichen spätgotischen Fenstern und phantasievollen Verzierungen der Konsolen und Schlußsteine. Da finden sich Greifen und Drachen, Katzen und Affen, der geheimnisvolle Kopf einer schönen Frau und ein seltsam schauriges, aus Pflanzen gebildetes Gesicht. Zwei Armen des Kreuzgangs sind Kapellen angebaut. Der Innenraum, eine breite, ruhige, romanische Anlage, wird durch die Gotik der beiden südlichen Seitenschiffe belebt.
Unter der Fülle der Kunstwerke, die das Innere schmücken fällt der steinerne Gnadenstuhl auf, wo Gottvater mit jugendlichem Antlitz dargestellt ist, so wie man Christus zu sehen gewohnt ist, unter den neuaufgedeckten spätgotischen Wandgemälden eine Darstellung des heiligen Martin in der Art rheinischer oder westfälischer Meister: ein junger Edelmann mit schönem, vornehmem Gesicht. Das Bild ist von einem Kaufmann gestiftet, vielleicht demselben, von dem das Martinsrelief am Rathause stammt. Ergreifender noch als diese sind die überlebensgroßen Holzfiguren der Maria und des Johann die einst auf dem Balken des Triumphkreuzes vor dem Chor gestanden haben. Sie gleichen Säulen, menschlichen Wesen die der Schmerz erstarrt hat. Schauerlich umhüllt sie die eisige Luft ewiger Trauer. Die im Dom befindlichen Figuren sind Kopien, die Originale bewahrt das Dom-Museum.
Weniger imposant als der Dom, aber höchst originell und reizvoll, ist die Franziskanerkirche auf der Stadtmauer, die im Jahre 1824 der evangelischen Gemeinde übergeben wurde. Der Zugang zu ihr geschieht durch den ehemaligen Totenhof, der von einer Mauer mit Portal umgeben ist. Jetzt erfüllen ihn verwildernde Büsche und Bäume; über dein Lila des Flieders und dem bräunlichen Rot der Blutbuche steigt der rosige Sandstein der Kirchenmauer auf, die hochaufschießende Fenster durchbrechen. An die Kirche, auch auf die Mauer gebaut, schließt sich das Armenhaus und Hospital, gegenüber, durch eine Straße getrennt, liegt der Friedhof.
Man kann fast die ganze Stadt an der Mauer entlang umschreiten. Von den Türmen hat der Graue Turm am östlichen (recte: westlichen!) Ende der Stadt, wo vermutlich die erzbischöfliche Burg war, eine besonders schöne Lage. Man sieht von hier weit ins Land; Einsamkeit und Verlassenheit hausen um das alte Gemäuer. Vor siebenhundert Jahren mag Fritzlar nicht sehr viel anders ausgesehen haben als heute, wenn auch die Tore, allerlei Kirchen und herrschaftliche Gebäude fehlen. Vom Bahnhof kommend, sieht man die Stadt auf der Höhe um den Dom geschart, wie sie wohl einst dem Wanderer erschien, der erfreut dem Zufluchtsort, dem berühmten Gotteshause, zustrebte. Die Brücke, die über die Eder führt, einst aus Stein, ist in Eisen erneuert, und die zierliche. Zweigeschossige Kapelle, die sie heiligte, ist verschwunden; aber das Wasser, die Wiesen, die weidenden Herden sind unverändert, und im Westen erblickt man den Büraberg, wo Bonifatius ein altes fränkisches Kastell zum Bischofssitz erhob.
© Urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.
Impressum: Verantwortliche Stelle im Sinne der Datenschutzgesetze, insbesondere der EU- Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), ist: Dr. phil. Johann-Henrich Schotten, 34560 Fritzlar-Geismar,
E-Mail: holzheim@aol.com und fritzlar-fuehrungen@gmx.de
Titeldesign: nach Kathrin Beckmann
Dank an Karl Burchart, Horst Euler, Marlies Heer, Klaus Leise. Wolfgang Schütz und Dr. Christian Wirkner für Hinweise und Tipps, Johannes de Lange für die Scan-Vorlagen
Die Seite ist nichtkommerziell und wird vom Verantwortlichen ausschließlich privat finanziert!
Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen
Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.