Vorbemerkung

Die deutsche Dichterin und Schriftstellerin Ricarda Huch (1864-1947) hat es sehr umfangreiches Oevre hinterlassen, in dem sie sich auch häufig mit Themen aus der Geschichte befasst, wobei sie offenbar gerne die Grenzen zwischen politi-schen, kulturellen und  kirchlichen Ereignissen als eher fließend betrachtet zu haben scheint. In diesem Zusammenhang wurde ihr Stil bisweilen als unterhaltsam oder -wie man heute sagen würde- "journalistisch" beschrieben. zu ihren be-kanntesten Werken zählen die drei Bände "Im Alten Reich – Lebensbilder Deutscher Städte", die 1927 und 1929/1930 im C. Schünemann Verlag in Bremen erschienen. Dabei behandelte der erste den Norden (Fritzlar auf den Seiten 158-163), der zweite  den Süden des damaligen Deutschlands und umfassten seinerzeit jeweils um die etwa 250 Seiten, die von dem zeitgenössischen Zeichner Hans Meid aber auch mit Abbildunegn aus der "TOPOGRAPHIA GERMANIAE"  des Mattharus Merian angemessen illustriert waren. Der Druckstil wirkte zugleich zeitgenössisch und historisierend, da als Lettern eine im "Art-deco-Stil" verfremdete Fraktur verwendet wurde. Im Jahre 1930 folgte dann noch ein 3. Band. Schünemann fasste im Jahre 1960 die Volumina zu einem zusammen, der ebenfalls in Bremen erschien und nun 458 Seiten umfasste. Es folgte eine Gesamtausgabe der Büchergilde Gutenberg, ebenfalls 1960, und weitere (hier Fritzlar auf den Seiten 456-461). 
      Den Texten wohnt -nach dem verlorenen 1. Weltkrieg- eine gewisse Traurigkeit inne, die sie aber nicht in die Arme des kommenden Unheils getrieben zu haben scheint, man zählt sie heute zu den Literaten der sog. "inneren Emigration".

Ricarda Huch

FRITZLAR

In New York kommt es vor, daß zwischen modernen, schwindelnd hohen Geschäftshäusern eine Kirche, die einst über ihre Umgebung hervorragte, wie eine Hütte verschwindet; wieder um sieht man zuweilen Kirchen, die zur Zeit, wo sie erbaut waren, in einem weiten und bedeutenden Umkreise Macht ausübten, groß und verlassen zwischen unschein­baren Häusern liegen, abseits von den begangenen Straßen und vom Treiben des Tages; so ist es in Fritzlar. Einst war die Stiftskirche St. Peter der Mittelpunkt weltbewegender Interessen, hier ver­sam­­melten sich die Könige und die Großen des Reichs, namentlich die stolzen Kirchenfürsten, und trafen wichtige Entscheidungen. Heilig und gefreit war das Münster und seine Umgebung, sein Schirm erstreckte sich weithin, wer ihm zu nahe trat, setzte sich dem allgemeinen Abscheu und vernichtenden Strafe aus. Im Jahre 1232 begab es sich, daß Konrad, der Landgraf von Thüringen, der heiligen Elisabeth Schwager, mit dem Erzbischof von Mainz, von dem er sich gekränkt glaubte, in Fehde lag und die Stadt Fritzlar, die dem Erzbischof gehör belagerte. Drei Monate hatte er vergeblich davorgelegen und er wollte schon abziehen, als der Spott der Belagerten ihn so reizte, daß er zu einem neuen Sturm schritt und diesmal Erfolg hatte. Viele Bürger hatten sich und ihre Habe in die Stiftskirche flüchtet; aber das Asyl wurde nicht geachtet. Bischof Heinrich von Worms suchte sich durch ein Fenster der erzbischöflichen Burg zu retten, wurde aber ebenso wie der Propst von Sankt Peter gefangen. Ein großer Teil der Stadt mit dem Dom und der Johanniskirche brannte nieder. Wegen der Verwüstung der Gottes­häuser wurde Konrad vom Papst in den Bann getan, dessen Kraft damals so groß war, daß der Betroffene alles daransetzte und keine Demüti­gung scheute, um sich davon befreien. Gewiß zerknirschte ihn aber auch das Gefühl, Heiligen gefrevelt zu haben. Er pilgerte nach Rom und speiste  dort täglich vierhundertzwanzig Arme, wobei er selbst diente. Obwohl der Papst ihn nun vom Banne lossprach, genügte das nicht: er mußte auch dem Erzbischof von Mainz eine Sühne schaffen, die darin bestand, daß er die Kirchen reich be­schenkte, öffentlich Buße tat und in einen geistlichen Orden eintrat. Mit zwei Freunden, Hartmann von Heldrungen und Theo­dorich von Grüningen, die bei der Zerstörung Fritz­lars mitgewirkt hatten, trat er in den Deutschen Orden ein. Er war schon mehrere Jahre Ordens­ritter, als die öffentliche Buße stattfand. Während einer Prozession kniete er nieder und bat die Vor­über­gehenden, sie möchten ihn geißeln. Niemand, außer einem alten Mütterchen, soll der Aufforderung nachgekommen sein. Bald darauf wurde er Ordenshochmeister, zog in den Kampf gegen die heidnischen Preußen und erwarb sich Ruhm. In der Elisabethkirche zu Marburg. deren Bau er haupt­sächlich veranlaßt hat, wurde er bestattet. Stift und Stadt Fritzlar bau­ten gemeinsam den Dom wieder auf, der jetzt noch steht, ein ehrfürchtig bestauntes Heiligtum, Vertreter einer Macht, vor der zur Zeit seiner Entstehung das ganze Volk in allen seinen Gliedern sich beugte.

      Die Gegend um Fritzlar war von jeher den Göttern geweiht. Auf den Hügeln über der Eder verehrten die Chatten Wodan und Donar, in der Nähe, bei Geismar, fällte Bonifatius die Donar-Eiche. An den Zerstörern des heiligen Baumes vermoch­ten die Diener untergehender Götter keine Rache zu nehmen, vielmehr errichtete Bonifatius zur Erinnerung an seine Tat in Fritzlar, das da­mals schon eine bewohnte Stätte war, ein klei­nes Benediktinerkloster und eine Kirche aus Holz. Von der steinernen, die später die erste ersetzte, einer dreischiffigen Basilika, wurden in unserem Jahrhundert die Grundmauern unter dem Mittel­schiff der heutigen aufgefunden. Um das Jahr 1000 wurde das Kloster in ein Chorherrenstift verwandelt. Als königliche Pfalz und wegen des Stifts war Fritzlar Jahr­hunderte hindurch ein Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Wigbert, ein Angelsachse, den Bonifatius kommen ließ, wurde der Lehrer des Bayern Sturmi, der später Hersfeld und Fulda gründete. An der Stiftsschule wirkte um 1200 Herbort, der im Auftrage des Landgrafen Hermann von Thüringen das Lied von Troja dichtete. In der Pfalz starb König Konrad aus dem Geschlecht der konradinischen Grafen von Hessen. Im Sterben bat er seinen Bruder Eberhard, zugunsten des tüchtigen und angesehenen Heinrich von Sachsen auf die Krone zu ver­­zichten, worauf der Vogeler gewählt wurde. Oft war Otto I. Fritzlar, zum letzten Male mit seinem Sohne Wilhelm, der seit einigen Jahren Erzbischof von Mainz war. Ihm übergab der Kaiser, da die hessischen Grafen ausgestor­ben waren, die Grafschaft, wodurch Fritzlar auch in weltlicher Beziehung an das Erzstift kam, zu dessen Diözese es bereits gehörte. Als Heinrich IV. sechzehnjährig in Fritzlar war. erkrankte er so schwer daß schon über die Nachfolge beraten wurde; die Ursache der Krank­heit sah man darin, daß er kurz zuvor in Aachen dem Erzbischof Anno von Köln das Kloster Malmedy geschenkt hatte, das dem Kloster Stablo zustand. Nachdem er die Schenkung rückgängig gemacht hatte, so heißt es, wurde er gesund. Noch mehrmals war der unglückliche Kaiser in Fritzlar, im Jahre 1005 mit seinem Sohne, der heimlich nachts die Stadt verließ, um sich nach Bayern in das Lager der Feinde seines Vaters zu begeben. Dreizehn Jahre später wurde auf einer Synode in Fritzlar der Bann über Heinrich V. und den von ihm aufgestellten Papst verhängt. Auf derselben Synode wurde der später heiligge­sprochene Norbert vom päpstlichen Legaten verklagt, weil er auf eigene Hand als Bußprediger aufgetreten war. Er hatte als Kanzler Heinrichs V., obwohl ein Geist­licher, mit anderen jungen Leuten ein weltliches Leben geführt, bis ein Blitzstrahl. der vor ihm in die Erde fuhr, ihn an die Gebrechlichkeit des irdischen Daseins mahnte. Er verkaufte, was er hatte, und schenkte alles den Armen, Seine Berufung auf Johannes den Täufer über­zeugte die Versammelten, und er wurde freigesprochen.

      Über hundert Jahre später wurde auf einer Synode in Fritzlar der Bann über Friedrich II. verhängt; aber die höchste Blüte von Stadt und Stift war schon vorüber, obwohl die großartige Erneuerung der zerstörten Stiftskirche gera­de unter den letzten IIohenstaufen begonnen wurde. Nicht mehr wie früher versammelten sich in Fritzlar Kaiser und Reich, wodurch ihm der Glanz einer Reichsstadt zuteil geworden war. Künftig war für seine Geschichte bestimmend der Umstand, daß es, auf der Grenze zwischen Mainz und Hessen liegend, ein Gegenstand beständigen Streites zwischen diesen Fürstentümern war. Da­bei hielt gewöhnlich das Stift zu Mainz, die Stadt zu Hessen. Als Fritzlar zur Reformationszeit gerade hessisch war, nahm es unter dem Schutze des Landgrafen einmütig, mit Aus­nahme des Stifts, die neue Lehre an. Das Kloster der Augustinerin­nen, im Tal außer­halb der Mauern gelegen, leerte sich, ebenso das Franziskanerkloster. Jost Runcke, ein Handwerker von Beruf, wurde Fritzlars erster Prediger, anfänglich an der Fraumün­sterkirche im Osten vor der Stadt, dann an der Kapelle vom Heiligen-Geist-IIospital. Indessen konnte sich der Protestan­tismus nicht erhalten; der Glaube wechsel­te, je nachdem Mainz oder Hessen obsiegte, bis Fritzlar durch den Westfälischen Frie­den endgültig zu Mainz kam. Trotz des Versprechens der Duldung wurde die Stadt unter dem erzbischöflichen Regiment gewaltsam katholisiert.

      Sehr mächtig und angesehen kann die Stadt als solche niemals gewesen sein; sie war weder durch ihre Lage zum Handelsplatz bestimmt, noch beförderte sie durch irgend­welche Produkte das besondere Aufkommen gewisser Gewerbe. Sicherlich waren die Bewoh­ner Fritzlars zum großen Teil Ackerbürger, wie der Ort jetzt noch einen dörflichen Charakter hat. Immerhin zeugt das romanische Rathaus von früh entwickeltem städtischem Wal­ten. Nur der steinerne Unterbau ist vorhanden; das obere Ge­schoß wurde in der Mitte des 15. Jahrhunderts durch einen spätgotischen Fachwerkbau ersetzt, der reich, zierlich und ma­lerisch war, der aber im 19. Jahrhundert abgerissen wurde. Aus der goti­schen Zeit stammt ein von dem Schöffen und Bürger­meister Johann Katzmann gestiftetes Relief­bild des hei­ligen Martin, das jetzt den einzigen Schmuck des düsteren, entstellten Gebäudes bildet. Die Katzmanns gehörten zu den vornehmen Geschlech­tern von Fritzlar. An der Spitze der Stadt­verwaltung standen zwei Bürger­meister; die zwölf Mitglieder des Rats wurden Schöffen oder Konsuln genannt. Den Schult­heißen, der Vorsitzender des Schöffenge­richts war, setzte der Erzbischof ein und ab. Die Gemeinde war durch zwei Männer vertreten, die den merkwürdigen Namen "Worte" oder "ge­meine Worte" hatten. Diese Einrichtung bestand bis 1788. An den Markt grenzen ein paar schöne schlanke Fachwerk­häuser, und ein ansehnlicher Renaissancebrunnen schmückt ihn. Von dort führt eine schmale Gasse am heftig gezackten Stein­giebel einer alten Kurie vorüber zum Dom. Stolz und ruhig liegt er auf dem Hügel über dem Tale wie ein alter Herrscher, der nicht merkt, wie sein Reich geschwunden und sein Volk gering gewor­den ist, ein Barbarossa in Traum versunken. Die Raben fliegen um seine Türme, die Kinder spielen auf dem weiten Platz vor ihm, und zuweilen kommt ein Fremder und blickt bewegt an seiner grauen Masse hinauf; er liegt feierlich da, als erwarte er Kaiser und Bischöfe und Grafen, vor sein Altären zu knien. Was an diesem Bau vor allem entzückt, die Mannigfaltigkeit seiner Gestaltung, von Jahr­hun­der­ten zusammengetra­gen. Der Westfassade ist das romanische Para­dies vorgebaut, die Säulengalerie der Apsis ist durch ein hohes go­tisches Fenster durchbrochen, über einer Nebenapsis erhebt sich ein reizendes Fachwerkge­schoß, die Bibliothek; dem nördlich Seitenschiffe vorgelagert sind eine gotische Ka­pelle und ein barocker Windfang, der rote Hals. An das südliche Seitenschiff schließt sich der Kreuz­gang mit reichen spätgotischen Fenstern und phan­tasievollen Verzierungen der Konsolen und Schlußsteine. Da finden sich Greifen und Dra­chen, Katzen und Affen, der geheimnisvolle Kopf einer schönen Frau und ein seltsam schauriges, aus Pflanzen gebildetes Gesicht. Zwei Armen des Kreuzgangs sind Kapellen angebaut. Der Innenraum, eine breite, ruhige, romanische An­lage, wird durch die Gotik der beiden südlichen Seitenschiffe belebt.

      Unter der Fülle der Kunstwerke, die das Innere schmücken fällt der steinerne Gnaden­stuhl auf, wo Gottvater mit jugendlichem Antlitz dargestellt ist, so wie man Christus zu sehen ge­wohnt ist, unter den neuaufgedeckten spätgoti­schen Wandgemälden eine Darstellung des heili­gen Martin in der Art rheinischer oder west­fälischer Meister: ein junger Edelmann mit schönem, vornehmem Gesicht. Das Bild ist von ei­nem Kaufmann gestiftet, vielleicht demselben, von dem das Martinsrelief am Rathause stammt. Ergreifender noch als diese sind die überlebensgroßen Holzfiguren der Maria und des Johann die einst auf dem Balken des Triumph­kreuzes vor dem Chor gestanden haben. Sie gleichen Säulen, menschlichen Wesen die der Schmerz erstarrt hat. Schauerlich umhüllt sie die eisige Luft ewiger Trauer. Die im Dom befindlichen Figuren sind Kopien, die Originale be­wahrt das Dom-Museum.

      Weniger imposant als der Dom, aber höchst originell und reiz­voll, ist die Franziskanerkirche auf der Stadtmauer, die im Jahre 1824 der evan­gelischen Gemeinde übergeben wurde. Der Zugang zu ihr geschieht durch den ehemaligen Totenhof, der von einer Mauer mit Portal umgeben ist. Jetzt erfüllen ihn verwildernde Büsche und Bäume; über dein Lila des Flieders und dem bräunlichen Rot der Blutbuche steigt der rosige Sand­stein der Kirchen­mauer auf, die hochaufschießende Fenster durchbre­chen. An die Kirche, auch auf die Mauer gebaut, schließt sich das Armenhaus und Hospital, gegen­über, durch eine Straße getrennt, liegt der Friedhof.

Man kann fast die ganze Stadt an der Mauer entlang umschrei­ten. Von den Türmen hat der Graue Turm am östlichen (recte: westlichen!) Ende der Stadt, wo ver­mut­lich die erzbischöfliche Burg war, eine be­sonders schöne Lage. Man sieht von hier weit ins Land; Einsam­keit und Verlassenheit hausen um das alte Gemäuer. Vor sie­benhundert Jahren mag Fritzlar nicht sehr viel anders ausgesehen haben als heute, wenn auch die Tore, allerlei Kirchen und herr­schaft­liche Gebäude fehlen. Vom Bahnhof kommend, sieht man die Stadt auf der Höhe um den Dom geschart, wie sie wohl einst dem Wanderer erschien, der erfreut dem Zufluchtsort, dem be­rühmten Gotteshause, zu­strebte. Die Brücke, die über die Eder führt, einst aus Stein, ist in Eisen erneuert, und die zierliche. Zwei­ge­schossige Kapelle, die sie heiligte, ist verschwunden; aber das Wasser, die Wiesen, die weidenden Her­den sind unver­ändert, und im Westen erblickt man den Büraberg, wo Boni­fatius ein altes fränkisches Kastell zum Bischofssitz erhob.

 

 

Stadtgeschichte:

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