Wochenspiegel Nr. 30/11 vom 29. Juli 1977, S. 1-2

DIE LEGENDE VON DEM FRITZLARER STIFTSHERRN

Unter dem Titel „Kennen Sie die `Deutsche Märchenstraße´“. hatte ich den Lesern fünf Sagen und Legenden aus dem „Hes­sen-Nassauischen Sagen-buch" von Prof. Dr. Paul Zaunort, ver­legt bei Eugen Diederichs, Jena, im Jahre 1929, welche sich auf Fritzlar bezogen, zur Kenntnis gegeben. Heute habe ich eine Fritzlarer Legen­de geschrieben, die uns in den zwanziger Jahren unsere Kinderfrau erzählte.

    Vor vielen Jahren spielten an den langen Sommerabenden, genau wie heute noch, die Jungen in Fritzlar das Verstecken­spiel. Beliebt war der alte Friedhof vor der Stiftskirche, heute Domplatz und Dom genannt. Einer der Jungen hatte sich die alte Stiftskirche als Ver­steck ausgesucht und, ehe er sichs ver­sah, war er in der Kirche eingeschlossen. Der Junge versuchte durch Rufen und Klopfen sich bemerkbar zu machen, aber niemand hörte ihn.

      Da er Meßdiener war, kannte er sich in der Stiftskirche gut aus und dachte wohl bei sich, die werden schon bald merken wenn ich nicht komme und holen mich wieder hier heraus. Er setzte sich, weil es dunkel wurde, in einen Beichtstuhl und schlief ein. Plötzlich, um Mit­ter­nacht, wurde er wach und hörte, daß jemand aus der Sonntags­sakristei kam und am Hochaltar die Kerzen anzündete. Dann sah er, daß es ein Geistlicher im Meß­gewand war, der bis zur obersten Chor­stufe trat und mit lauter Stimme rief: „Ist denn kein Meßdiener in diesem Gotteshau­se?“ Der Junge wunderte sich, meldete sich aber und antwor­tete er sei ein Meßdiener. „Dann komme zu mir herauf und diene mir beim Meßopfer.“ Sogleich fing der alte Priester seine lateinische Messe zu lesen an und der Junge gab ihm als Meß­diener die lateinischen Antworten. „Ich danke dir, daß du mir bei der hl. Messe gedient hast, ich war einst Stiftsherr in dieser Kirche und finde keine Ruhe im Grabe, denn ich habe zu meinen Lebzeiten viele Seelenmes-sen angenommen und nicht alle gelesen. Nur wenn ich um Mitter­nacht mit Hilfe eines Meßdieners Messen lesen kann, wird mir die schwere Schuld in der Ewigkeit verziehen. Aus Dankbar­keit werde ich dir drei Tage vor dei-nem Tode nochmals er­scheinen, damit du noch rechtzeitig mit unserem Herrgott ins reine kommen kannst.“

      Nachdem der Junge aus der Schule entlassen wurde, trat er in eine kaufmännische Lehre und wurde in seinem Leben ein tüchtiger und erfolgreicher Kaufmann mit hohem Ansehen in unserer Stadt. 

       Als er eines Abends als 76jähriger Mann noch in seinem Büro arbei­tete, um wie all die Jahre zuvor seine ge­schäftlichen Eintragungen zu ma­chen, ging plötzlich die Türe auf und herein trat der alte Stiftsgeist­liche. Der Kaufmann er­schrak und sein Kindheitserlebnis stand ihm wie­der vor Augen. Der Stiftsherr sagte: „Hiermit löse ich mein Verspre­chen ein, in drei Tagen wirst du vor deinem Herrgott stehen.“ Nachdem diese Worte gesagt waren, war er wieder verschwunden. Daraufhin mach­te der alte Kaufmann seine letzte Lebensab­rechnung. Seinen Leu­ten erklärte er, daß er eine sehr wichtige Angelegenheit zu erledigen hätte und deswegen unter keinerlei Umständen die nächsten Tage gestört werden wolle. Er zog sich in sein Büro zurück und schloß es hinter sich ab. Als nun nach drei Tagen der Kaufmann sich immer noch nicht zeigte und auf Klopfen hin keinerlei Lebens­zeichen zu hören war, wurden seine Leute unruhig und beschlossen, die Bürotüre ge­waltsam zu öffnen. Sie sahen ihren Herrn friedlich auf dem Sofa liegen. Als man ihn ansprechen wollte und er keine Ant­wort gab, merkten alle, daß er verstorben war. Auf seinem Schreibtisch lag ein Testament, in welchem er sein Vermögen dem Hospital am Mühlengraben und den Armen der Stadt vermachte. Auch ein Brief lag dabei, worin er sein Jugender­lebnis in der Fritzlarer Stiftskirche niedergeschrieben hatte, um seine Mitmenschen auf das große Ziel des Lebens für die Ewigkeit Gottes aufmerksam zu machen.

Soweit die Fritzlarer Stiftsherrenlegende. Man wird verste­hen, daß uns Kinder diese Erzählung sehr beeindruckte, so daß ich sie noch nach 55 Jahren in allen Einzelheiten behalten ha­be. Diese einfache alte Kinderfrau konnte nach meinem Wissen sich eine solche Legende nicht selbst ausgedacht haben. Es wä­re interessant zu erfahren, ob diese Art von Legende irgend­wo aufgeschrieben ist, oder ob sie in ähnlicher Form auch in anderen Orten bekannt war.

Hans Josef Heer

Kirchengeschichte:

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