DIE LEGENDE VON DEM FRITZLARER STIFTSHERRN
Unter dem Titel „Kennen Sie die `Deutsche Märchenstraße´“. hatte ich den Lesern fünf Sagen und Legenden aus dem „Hessen-Nassauischen Sagen-buch" von Prof. Dr. Paul Zaunort, verlegt bei Eugen Diederichs, Jena, im Jahre 1929, welche sich auf Fritzlar bezogen, zur Kenntnis gegeben. Heute habe ich eine Fritzlarer Legende geschrieben, die uns in den zwanziger Jahren unsere Kinderfrau erzählte.
Vor vielen Jahren spielten an den langen Sommerabenden, genau wie heute noch, die Jungen in Fritzlar das Versteckenspiel. Beliebt war der alte Friedhof vor der Stiftskirche, heute Domplatz und Dom genannt. Einer der Jungen hatte sich die alte Stiftskirche als Versteck ausgesucht und, ehe er sichs versah, war er in der Kirche eingeschlossen. Der Junge versuchte durch Rufen und Klopfen sich bemerkbar zu machen, aber niemand hörte ihn.
Da er Meßdiener war, kannte er sich in der Stiftskirche gut aus und dachte wohl bei sich, die werden schon bald merken wenn ich nicht komme und holen mich wieder hier heraus. Er setzte sich, weil es dunkel wurde, in einen Beichtstuhl und schlief ein. Plötzlich, um Mitternacht, wurde er wach und hörte, daß jemand aus der Sonntagssakristei kam und am Hochaltar die Kerzen anzündete. Dann sah er, daß es ein Geistlicher im Meßgewand war, der bis zur obersten Chorstufe trat und mit lauter Stimme rief: „Ist denn kein Meßdiener in diesem Gotteshause?“ Der Junge wunderte sich, meldete sich aber und antwortete er sei ein Meßdiener. „Dann komme zu mir herauf und diene mir beim Meßopfer.“ Sogleich fing der alte Priester seine lateinische Messe zu lesen an und der Junge gab ihm als Meßdiener die lateinischen Antworten. „Ich danke dir, daß du mir bei der hl. Messe gedient hast, ich war einst Stiftsherr in dieser Kirche und finde keine Ruhe im Grabe, denn ich habe zu meinen Lebzeiten viele Seelenmes-sen angenommen und nicht alle gelesen. Nur wenn ich um Mitternacht mit Hilfe eines Meßdieners Messen lesen kann, wird mir die schwere Schuld in der Ewigkeit verziehen. Aus Dankbarkeit werde ich dir drei Tage vor dei-nem Tode nochmals erscheinen, damit du noch rechtzeitig mit unserem Herrgott ins reine kommen kannst.“
Nachdem der Junge aus der Schule entlassen wurde, trat er in eine kaufmännische Lehre und wurde in seinem Leben ein tüchtiger und erfolgreicher Kaufmann mit hohem Ansehen in unserer Stadt.
Als er eines Abends als 76jähriger Mann noch in seinem Büro arbeitete, um wie all die Jahre zuvor seine geschäftlichen Eintragungen zu machen, ging plötzlich die Türe auf und herein trat der alte Stiftsgeistliche. Der Kaufmann erschrak und sein Kindheitserlebnis stand ihm wieder vor Augen. Der Stiftsherr sagte: „Hiermit löse ich mein Versprechen ein, in drei Tagen wirst du vor deinem Herrgott stehen.“ Nachdem diese Worte gesagt waren, war er wieder verschwunden. Daraufhin machte der alte Kaufmann seine letzte Lebensabrechnung. Seinen Leuten erklärte er, daß er eine sehr wichtige Angelegenheit zu erledigen hätte und deswegen unter keinerlei Umständen die nächsten Tage gestört werden wolle. Er zog sich in sein Büro zurück und schloß es hinter sich ab. Als nun nach drei Tagen der Kaufmann sich immer noch nicht zeigte und auf Klopfen hin keinerlei Lebenszeichen zu hören war, wurden seine Leute unruhig und beschlossen, die Bürotüre gewaltsam zu öffnen. Sie sahen ihren Herrn friedlich auf dem Sofa liegen. Als man ihn ansprechen wollte und er keine Antwort gab, merkten alle, daß er verstorben war. Auf seinem Schreibtisch lag ein Testament, in welchem er sein Vermögen dem Hospital am Mühlengraben und den Armen der Stadt vermachte. Auch ein Brief lag dabei, worin er sein Jugenderlebnis in der Fritzlarer Stiftskirche niedergeschrieben hatte, um seine Mitmenschen auf das große Ziel des Lebens für die Ewigkeit Gottes aufmerksam zu machen.
Soweit die Fritzlarer Stiftsherrenlegende. Man wird verstehen, daß uns Kinder diese Erzählung sehr beeindruckte, so daß ich sie noch nach 55 Jahren in allen Einzelheiten behalten habe. Diese einfache alte Kinderfrau konnte nach meinem Wissen sich eine solche Legende nicht selbst ausgedacht haben. Es wäre interessant zu erfahren, ob diese Art von Legende irgendwo aufgeschrieben ist, oder ob sie in ähnlicher Form auch in anderen Orten bekannt war.
Hans Josef Heer
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Titeldesign: nach Kathrin Beckmann
Dank an Karl Burchart, Horst Euler, Marlies Heer, Klaus Leise. Wolfgang Schütz und Dr. Christian Wirkner für Hinweise und Tipps, Johannes de Lange für die Scan-Vorlagen
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