Vorbemerkung

Um das Selbstverständnis der Gründungsmitglieder der Ur- und frühgeschichtlichen Arbeitsgemeinschaft in Fritzlar zu begreifen, ist es nützlich auf die "Pionierzeit" ihrer organisierten Tätigkeit zurückzublicken. Dabei wird deutlich, daß ihr auch schon bislang historisches Interesse, das z. T. weit in die Zwischenkriegszeit (bei August Boley und Willi Mathias sogar bis vor den 1. Weltkrieg) zurückreichte, durch ihre Erfahrungen des 3. Reiches sicher mitgeprägt worden ist. Das bedeutete aber ihren weiterhin aufmerksamen Blick zunächst möglichst weit von "Rassen", "Ariern" und "Germanen" zu richten. Mit der Steinzeit und Eiszeit hatte sich bislag (von Fritz Rödde, Felix Pusch und Adolf Luttropp vielleicht ein-mal abgesehen) kaum jemand ensthaft beschäftigt. Bei Walter Knapp und Alfred Klisch war die Berührung mit geologi-schen und naturwissenschaftlichen Phänomenen beruflich bedingt. Daher ist das hier im Jahre 1956 veröffentliche Lob von Prof. Jacobshagen (der ja seine eigene bemerkenswerte Forscherlaufbahn aufwies) nicht nur eine erste, nicht nur er-strebte Bestätigung sondern bedeutet auch einen Anschub und Auftrieb von kompetenter professioneller Seite, der Sicherheit gab und genug Anstoß bot weiter und voran zu arbeiten. Tatsächlich wurde dann im Laufe der nächsten Jahrzehnte die Sammlung in Fritzlar in Nordhessen eine der bedeutensten uns angesehensten nach dem Ottoneum und dem Landesmuseum in Kassel. Die Zusammenarbeit mit Prof. Bosinski, Universität Köln, Monrepos, seinen Schülern und anderen Vertretern, auch international, war daher sicher kein Zufall.

Laienforscher in der Eiszeitenkunde

Von Prof. Dr. E. Jacobshagen

Auf die stille, zähe und Idealistische Arbeit der Laienforscher, die zwar von der Öffentlichkeit wenig beachtet, aber von der Wissenschaft längst anerkannt und ausge­wertet wird, haben wir an dieser Stelle schon oft hingewiesen, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die aktiven Laienmitarbeiter, die das Kasseler Naturkundemuseum am Steinweg so lebendig halten. Mit den folgenden Zeilen stattet nun der be­kannte Eis­zeitforscher Prof. Dr. Jacobshagen seinen speziellen Laien­helfern für ihre wissenschaft­liche hochbedeutende Forscher­arbeit sei­nen öffentlichen Dank ab. Und wir wünschen, daß das Bei­spiel dieser Männer anregend und werbend wirken möge, vor allem in jüngeren Jahrgängen, so wie in England z. B., wo in diesen Sommer­monaten allein 500 Amateurachäologen - Ärzte, Rechtsanwälte, Fa­brik­arbeiter. Ingenieure, Gymnasiasten u. a. - „Maulwurfsferien“ ge­nom­men ha­ben, um zur Erholung mit dem Spaten in der Erde zu wühlen und unter wissenschaftlicher Kontrolle sechs altrömischen Sied­lungen in allen Gegenden Englands ihre Geheimnisse zu ent­locken.                                                                                                                                                           (F.H.)                                                                                                                                                                                                                                 

Alle Naturwissenschaft will der Gegen­wart dienen. Sie möchte die Urgeheimnisse der Natur weiter und weiter übersehen können, und sie will immer tiefer in die Zusammenhänge Ihres Geschehens ein­drin­­gen. Welcher Segen aus ihrem Streben für das äußere Men­schenleben entsprungen ist, das liegt vor aller Augen. Uns allen setzt das Schicksalsringen innerlich am schwer­sten zu. Für jeder­mann auf der Erde, der in seiner Lebensschlacht steht, hat Alex­an­der von Humboldt, der edelsten und größten Söhne unseres deut­schen Volkes einer, als erster in fast 50jähriger Forscher­arbeit vor mehr als hundert Jahren eine Naturwissenschaft gegründet, die nach Goethes Worten „dem Menschen nützt, indem sie ihn erhebt“. Alle Laienforscher, von denen ich hier schreibe, haben den Wunsch, ihren Mitmenschen Erkenntnisse und innere Werte zu zeigen, die etwas für sie bedeu­ten können.
      Das Eiszeitenalter der Erde hat in unse­rer Heimat nach einer Dauer von etwa 1 Million Jahren im wesentlichen vor ver­mutlich 18000 Jahren geendet. Da dürfen Sie nun nicht sagen: Na, das ist längst vor­bei und geht mich nichts mehr an. Selbst der Astronom, der mit dem Riesenfernrohr auf der kalifornischen Sternwarte auf dem Mount Palomar beobachtet, und dem da Lichtstrahlen begegnen, die von Sternen vor einer Milliarde Jahren ausgesandt wur­den, erforscht dennoch die Gegenwart der Natur! Von der Allnatur gelten Goethes Worte: „Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht, Gegen­wart ist ihre Ewigkeit“. Der Naturforscher befindet sich täglich dem Un­endlichen und Ewigen gegenüber.
      Aus mehr als 400000 Jahren des Eiszeiten­alters haben wir in Deutschland bereits verläßliche Zeugnisse menschlichen Lebens. Vielleicht begann dieses im Eiszeitenalter! So ist Anlaß genug, gerade Eiszeitenkunde zu betreiben.

      Felix Pusch, Bad Wildungen (1886  bis 1948), hatte als einziger Sohn sei­nes Vaters Druckerei und Buchhandlung über­nommen. Von klein auf hatte es ihn stär­ker zur Naturforschung als in seinen Beruf ge­zo­gen. Aus Büchern und aus dem Um­gange mit tüchtigen Wildungern verstand er es, von den Pflanzen, von der Erd­geschichte der Heimat und ihren ausgestor­benen Pflanzen und Tieren, deren Resten er in den heimischen Gesteinen begegnete, derartige Kenntnisse zu erwerben, daß er nun den Forschern des In- und Auslandes, die bei Wildungen ar­beiteten, ein begehrter Führer und Helfer war. In Gesprächen mit ihnen suchte er, der ein guter und froher Gesellschafter war, wissenschaftlich selbst weiter und weiter vorzudringen. Eine große Beobachtungsgabe und ein Findergenie war ihm eigen. Ihm danken wir die Entdec­kung und erste Ausbeutung des bisher weitaus bedeutendsten eiszeitlichen Tier­fundplatzes Nordhessens, der Lößlehm­grube Biedensteg im Wilde­tal. 1932, im Ge­spräch mit einem Erdgeschichtsforscher über das während einer Eiszeit vom Winde angewehte Gestein der Biedensteg­grube, hatte Pusch gefragt, ob man dort nie eis­zeitliche Tierreste ge­funden habe. Nein, hieß es. Das war Pusch unvorstellbar. Er steuerte darum am folgenden Nachmittage gleich mit zwei Umhängetaschen und dem nötigen Schanzzeug zum Biedensteg. Gegen Mitternacht mußte ein Auto aus der Stadt die Beute des ersten Tages Pusch'scher Eis­zeit­forschung heimfahren! Alsbald leitete er eine ausgezeichnet durchge­führte plan­mäßige Ausgrabung am Biedensteg ein. Sie wurde ein groß­artiger Erfolg. Drei Jahre später machte er dort noch eine zweite Plangrabung, die wichtige Ergänzungen brachte.
      1941 nahm ich die Bearbeitung der Pusch­´schen Ausgrabungen in die Hand, wertete sie auch tiergeographisch aus und verband sie sogleich mit erdgeschichtlichen Studien im Lande. Sie sollten zeigen, daß Tundren­spuren in Nordhessen wirklich vorhanden waren. 1950 reiste ich nach Niederschrift eines entsprechenden Buches mit Vor­trä­gen durch Nordhessen und veranstaltete in Zie­genhain und Wil­dungen Eiszeiten-Ausstel­lungen. Vier Jahre nach Puschs Tode konnte ich an einer anderen Stelle des Biedenstegs dann die unterste der früheren Fundschich­ten als erneut fundergiebig nachweisen.
      Rudolf Lorenz, Bad Wildungen, der in­zwischen durch reiche eigene Funde die Reihe der Wildunger Laienforscher erfreu­lich ver­längert hat, und ich haben aus ihr die Zahl der von Pusch gefundenen Tier­arten versechsfachen können. Damit hat Puschs Fundplatz eine wohl in ganz Deutschland einmalige wissenschaftliche Bedeutung erhalten. Hier kann ich nur auf sie verweisen.
      Adolf Luttropp. Ende der dreißiger Jahre hatte ein anderer großer Laienforscher auf eiszeitlichem Gebiet dem Fehlen einer offi­ziellen Hin­terlassenschaft eiszeitmensch­lidier Waffen und Geräte gründlich abge­holfen, Adolf Luttropp, Lehrer in Ziegen­hain. 1938 legte er die ersten Faustkeile des Jung - Acheul, aus hessischem Quarzit gefertigt, auf den zuständigen Amtstisch.
      Tausende von Waffen und Geräten hatte er im Kreise Ziegenhain gesammelt. Aus Ihnen suchte er die schönsten Stücke aus, als wir nach Ziegenhain und Wildungen mit Hilfe des Heimatbundes für Kurhessen und Waldeck auch in Kassel, in Marburg und in Fritzlar Eiszeit-Ausstellungen veranstal­ten konnten. Weit über 20000 Besuchern ha­ben seine Funde vorgelegen. Sie bestä­tigten die fünf letzten eiszeit­lichen Men­schenkulturen Westeuropas für Nordhessen. Da lagen auch die in Deutschland nie ge­fundenen kleinen frühen Faustkeile der Neanderta­lerkultur. Und da wurden die Techniken des Levallois und des Clacton in hessischem Quarzit aus verschiedenen Eis­zeitperioden gezeigt! Luttropp machte Nordhessen zum fundreichsten Gebiete in Deutsch­land, errang sich die Anerkennung der Spitzen der internationalen Eis­zeltfor­achung und gewann auch freundschaftliche Beziehungen zu eini­gen deutschen Fachleu­ten. Heute soll auch von Luttropp nur kurz die Rede sein, denn ich muß hier noch von der musealen Arbeits­ge­mein­schaft Fritzlar berichten.
      Im Herbst 1952 war in Fritzlar Eiszeiten­-Ausstellung. Wir zeigten eiszeitliche Tier­reste, dazu Waffen und Geräte von Eiszeit­menschen aus dem Heimatboden.

Sieben Laienforscher in Fritzlar

Ludwig Köhler, Optiker und Uhr­macher am Markt, hatte sich längst prak­tisch mit Geschichte- und Vorgeschichtsfor­schung befaßt. Der damalige Kreisbaumei­ster, Walter Knapp, hegte ähnliche Interessen. Die Fundstücke unserer Aus­stellung raubten ihnen die Seelenruhe. Nur sonntags hatten sie zum Suchen Zeit. Da aber regnete es. In Räuberzivil rollten beide früh ins Gelände. Von den lehmigen Äckern schleppten sie nach und nach 3000 Quarzitsplitter und Stücke schwarzen Kie­sel­schiefers ab. Mittags erfolgte die Lan­dung der Herren in Fritzlar. An 500 Geräte eiszeitlicher Menschen hielten der Kritik stand! - Der Erfolg un­serer Pioniere hat die Kopfzahl der Laienforscher in der Dom­stadt auf sieben heraufgesetzt. Neben Kaufmann Wi1li Mathias, Lehrer Al­fred Klisch und Diplom-Landwirt Fritz Rödde stehen als junger Nach­wuchs die Primaner Stadermann und Feldmann.
      Taten allein spiegeln den Geist! Es Ist Sonntagsfrühe im Braun­koh­len­bergbau zu Borken. Vor einer schräggelagerten Bank glitschigen, grauen Melanientones aus dem Obermiozän ist ein Stoßtrupp der Fritzlarer Musealen gelandet. Fischschuppen, viele Jahrmillionen alt, haben ihn hergelockt. Blieben auch ihre Schuhe im Ton stecken, der Stoßtrupp kehrte lebendig zurück. Seine Beute brachte er mir nach Marburg. Mit ihr allein fertig zu werden, traute ich mir nicht zu. Wir baten Herrn Grahmann vom Geologischen Institut als Fachmann zur Hilfe. Da kam an den Tag, was verdient, jedermann gezeigt zu werden: Reste alter Ganoidfische, solche von Knochen­fischen, von Schildkröten, von Krokodilen, Gehäuse von Schnecken, von Muschelscha­len und viele korintenartig aussehende Pflanzensamen. Tiere und Pflanzen eines tro­pen­nahen Klimas! Suchen Sie auf der Karte New Orleans an der Mün­dung des Mississippi. Dort im Flusse lebt eine ganz nahe ver­wandte Tier- und Pflanzenwelt am 30. Grad nördl. Breite. Der verläuft in Afrika auf der Südseite des Atlasgebirges! - Einst in Borken! -
      Dann fanden die Unentwegten am Schla­denweg in Fritzlar den Step­­pen­elefanten aus der vorletzten Eiszeit! Man holte mich an einem Sonntage, ihn zu bestimmen. Es regnete natürlich wieder. Lumpen lassen konnte ich mich bei den Männern nicht. Also rollten wir mitten in den Lehmmatsch hinein. Aber als ich um die Ecke zum Fundplatz biege, liegt vor meinem Schuh im Dreck der Unterkiefer einer Höhlen­hyäne. Die fehlte zur Zeitberechnung: vor etwa 185000 Jahren! Penndorf und ich haben 1952 für das untere Werratal fest­gestellt: dort lag die mittlere Jahreswärme zur letzten Eiszeit um mindestens 10,3 Grad tiefer als heute. Das Heimatklima ist also vom subtropischen zum Tundrenklima der Eismeerküsten umgewandelt, ehe es zum heutigen Stande kam.
      Das Hochzeitshaus zu Fritzlar zeigt alle diese und noch viele andere interessante Dinge.
                                                                                                                              Sind sie nicht vorbildlich, diese eiszeit­kundlichen Laienforscher?

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